Integrierte Diagnostik – Radiologe, Pathologe und Genetiker an einem (digitalen) Tisch

Prof. Dr. Christoph Becker, emeritierter Professor an der Universität Genf

Radiologie, Pathologie und Labormedizin unter einem Dach: Die ärztliche Direktion des Universitätsspitals von Genf hat kürzlich beschlossen, diese drei diagnostischen Disziplinen in einer Organisationsstruktur zusammenzuführen. Das Vorhaben ist ein erster verwaltungstechnischer Schritt zur Verwirklichung eines Konzeptes, das unter dem Schlagwort „integrierte Diagnostik“ bekannt geworden ist. „Unsere Vision ist die Etablierung eines ,diagnostic board‘, in dem Radiologie, Pathologie und Genetik in gemeinsamer Zusammenarbeit eine detaillierte, strukturierte Diagnose erstellen, die weit über die reine Bildgebung hinausgeht“, bekräftigt Prof. Dr. Christoph Becker, emeritierter Professor an der Universität Genf und bis 2019 Direktor der Radiologie am Genfer Universitätsspital.

Ziel ist es, die Silos der einzelnen Disziplinen aufzubrechen und eine intensivere Zusammenarbeit der diagnostischen Spezialisten zu erreichen.

Professor Dr. Christoph D. Becker

Die Zusammenführung der Disziplinen in Genf sei in erster Linie administrativ- organisatorischer Natur, betont der Schweizer Radiologe. Es gehe nicht darum, dass Radiologen Pathologie betreiben oder umgekehrt: „Ziel ist es, die Silos der einzelnen Disziplinen aufzubrechen und eine intensivere Zusammenarbeit der diagnostischen Spezialisten zu erreichen“, wie der Schweizer Radiologe erläutert.

Integrierte Diagnostik in Krankenhäusern – was ist zu tun?

Dafür sind in seinen Augen drei Aspekte entscheidend. Der erste davon ist der organisatorisch-administrative. Da dieser stark von den lokalen Gegebenheiten (Geographie, Organigramm des Krankenhauses, Distanzen zwischen Abteilungen, Budget) abhängig ist, lassen sich darüber keine generalisierenden Aussagen treffen.

Der zweite Aspekt ist die digitale Infrastruktur. In diesem Punkt macht Becker deutliche Unterschiede in den Disziplinen aus: „Die Radiologie hat vor 20 Jahren mit der Digitalisierung begonnen und verfügt heute fast überall über eine voll digitale Infrastruktur. Auch im Labor ist die Digitalisierung bereits sehr weit fortgeschritten.“ Die Pathologie allerdings steht in Sachen Digitalisierung vielerorts noch am Anfang. Ein entscheidender Grund dafür ist die Komplexität dieses Vorhabens. Während radiologische Bilder heute von vorneherein digitaler Natur sind, ist eine Gewebeprobe naturgemäß analog. „Das analoge Substrat und auch die dazugehörige Analytik muss erst einmal digitalisiert werden. Das ist vom IT-Volumen viel aufwändiger, weil Farbe und Hochauflösung zum Einsatz kommen“, wie der Schweizer Radiologe betont. In Genf werden gerade die ersten Schritte sowohl für die Digitalisierung der Pathologie als auch in Richtung einer umfassenden digitalen Infrastruktur für die gesamte medizinische Bildgebung umgesetzt: Dort soll ein digitales Zentralarchiv entstehen, in dem alle Bilder gespeichert werden, die im Universitätsspital produziert werden – nicht nur radiologische Aufnahmen, sondern auch jene Bilder und Videos, die zum Beispiel in der Dermatologie oder bei Endoskopien anfallen.

Wie so oft entscheidet der Workflow über den Erfolg

Der dritte entscheidende Aspekt für die Etablierung einer Integrierten Diagnostik ist der Workflow. In diesem Zusammenhang bedeutet dies die Beseitigung von Diskrepanzen in der Diagnostik – bisweilen kommen die verschiedenen diagnostischen Disziplinen zu unterschiedlichen Befunden – sowie die Verfeinerung von diagnostischen Prozessen. Am Universitätsspital von Genf zum Beispiel ist bereits seit einigen Jahren bei vielen der am Departement für Radiologie vorgenommenen Biopsien jeweils ein Pathologe vor Ort. Hier steht ihm die nötige technische Infrastruktur zur Verfügung, um das Ergebnis der Biopsie unverzüglich begutachten zu können. Enthält die Probe nicht genügend Material oder ist sie auf andere Art unbrauchbar, wird sofort abermals biopsiert. „Die Pathologen kommen gerne zu uns, weil sie es sehr zu schätzen wissen, auf unmittelbarer Basis und in direkter Kommunikation mit den Kollegen arbeiten zu können. Und auch die Patienten profitieren direkt davon, da sie nicht ein zweites Mal untersucht werden müssen“, berichtet Becker aus der Praxis.

Der Ort, an dem Radiologen, Pathologen und Labormediziner bzw. Genetiker heute ihre Befunde auf einen gemeinsamen Nenner bringen, ist in der Regel das Tumorboard, in dem die Vertreter aller beteiligten Fächer in multidisziplinärer Zusammenarbeit die individuell beste Behandlungsstrategie für die Patienten festlegen. „Das sind aufwändig zu organisierende Veranstaltungen“, weiß der Radiologe: Es ist nicht leicht, die verschiedenen Spezialisten zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu versammeln. Außerdem geht Zeit, die die klinischen Spezialisten beim Tumorboard mit der Zusammenführung der Diagnostik verbringen, auf Kosten jener Zeit, die sie ansonsten der Behandlung ihrer Patienten widmen könnten. „Die Zeit der Spezialisten ist kostbar“, betont Becker.

Aus diesem Grund hält er es für geboten, dass etwaigen Diskrepanzen zwischen den Befunden der diagnostischen Disziplinen bereits vorab auf den Grund gegangen wird und diese nach Möglichkeit geklärt werden, bevor das Tumorboard stattfindet. „Radiologen, Pathologen und Labormediziner kommen idealerweise gemeinsam zu einem konsensuellen Befund, der dann ins Tumorboard hineingeht“, beschreibt Becker die Idee des ,diagnostic board‘: „Das ist sicherlich nicht immer vonnöten, bietet aber bei speziellen, komplizierten Fällen enorme Vorteile“.

Radiologie und Pathologie müssen miteinander sprechen lernen

Das klingt einfacher als es ist, denn Radiologen und Pathologen sprechen – zugespitzt formuliert – unterschiedliche Sprachen. Zwar weisen Radiologie und makroskopische Pathologie durchaus Parallelen auf – beide beurteilen in erster Linie die Morphologie – doch handelt es sich in vielerlei anderer Hinsicht doch um gänzlich unterschiedliche Betrachtungsweisen. Während die Radiologie stets einen Überblick über Körperregionen oder Organe gibt, liefert die Pathologie weniger anatomisch umfassende, aber dafür mikroskopisch vertiefte Ergebnisse auf zellulärer und immunologischer Ebene.  Wird jede der Methoden isoliert betrachtet, so kann dies angesichts der oft vorliegenden Heterogenität von Tumoren mitunter problematisch sein. Für eine optimale Diagnose ist es daher von Vorteil, wenn diese komplementären Informationen im Zusammenhang betrachtet werden.   „Der technische Fortschritt ermöglicht heutzutage allerdings auch dem Radiologen, immer mehr in die detaillierten Eigenschaften der Gewebsstrukturen vorzudringen“, erklärt Becker: „Mittlerweile gehört funktionelle Bildgebung zur Routine.“ Mittels CT-Perfusion etwa lässt sich zeigen, wie schnell ein bestimmtes Gewebe Blut aufnimmt. Diffusionsgewichtete MRT wiederum erlaubt einen Blick auf die Zellularität des Gewebes, und die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) gibt unter anderem Einblick in die metabolische Aktivität wie zum Beispiel den Glukoseverbrauch. „Bei der MRT gestattet auch eine Reihe von Parametern wie T1 oder T2, das Gewebe auf nicht-invasive Art zu befragen“, fügt der Genfer Radiologe hinzu. „All das muss zusammengeführt werden, damit man genau weiß, wo der Patient steht“, bekräftigt Becker.

Der Patient im Mittelpunkt

Apropos Patient: Der emeritierte Professor ist zutiefst überzeugt, dass Patienten künftig zunehmend in die Entscheidungsprozesse involviert sein werden: „Die Patienten der neueren Generation wollen wissen, was mit ihnen los ist. Einige von ihnen wollen dabei sein, wenn ihr Fall besprochen und entschieden wird. Sie wollen Argumente hören und Fragen stellen. In Genf etwa nehmen einzelne Patienten bereits heute an den Tumorboards teil, in denen es um ihre Erkrankung geht. „Patient Empowerment“ lautet das Stichwort: „Nothing about me without me.” Studien zeigen sogar, dass Patienten – vor allem jüngere und weibliche – mit Online-Zugang zu ihren Krankenakten ihre radiologischen Befunde häufiger abfragen als ihre klinischen Dokumente.

Allerdings wirft das „Patient Empowerment“ auch Fragen auf: Wenn die Befunde immer detaillierter und komplexer werden, wenn immer mehr Parameter einfließen, die nur von Spezialisten entschlüsselt werden können – wie soll der Patient das noch verstehen? „Hier kommt die Künstliche Intelligenz ins Spiel“, lächelt Becker. In seinen Augen könnten künftig Algorithmen dazu dienen, die hochkomplexen Befunde in Laiensprache zu übersetzen. Becker: „Diese Übersetzungen mithilfe menschlicher Arbeit in den alltäglichen medizinischen Workflow zu überführen ist zu zeitaufwändig und kann nur automatisiert erfolgen.“

 

Prof C Becker DACH

Professor Dr. Christoph D. Becker
Christoph Becker absolvierte sein Medizinstudium und die Promotion an der Universität Bern, gefolgt von der Facharztausbildung für Radiologie am Universitätsspital Bern (Inselspital).

Nach einer zweijährigen klinischen Weiterbildung in interventioneller Radiologie in Vancouver, University of British Columbia, Kanada, kehrte er ans Universitätsspital Bern als Oberarzt zurück und erhielt die Venia Docendi der Universität Bern.

Ab 1994 war er am Universitätsspital Genf tätig, wo er zunächst die interventionelle und abdominelle Radiologie leitete und 2001 zum Professor und Vizedirektor der dortigen radiologischen Klinik ernannt wurde. Ab 2004 leitete er die radiologische Universitätsklinik als Klinikdirektor. Im Rahmen seines Ordinariats stand er auch dem klinischen Departement für medizinischen Bildgebung sowie dem akademischen Department für Radiologie und medizinische Informatik vor. Es folgte die Mitarbeit bei der Kreation des neuen Spitaldepartments für Diagnostik und am Ende des Mandats als Ordinarius und Klinik- und Departementsdirektor im Jahr 2019 die Ernennung zum Professor emeritus der Universität Genf.